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Kapitel 1: Ein neuer Anfang[]

Caroline zuckte zusammen, als sie die Schulklingel hörte. Es war ein schriller, lauter Ton, ganz anders als der in ihrer alten Schule. Dort war das Klingeln nur eine ruhige Melodie gewesen. Nachdem das laute Geräusch der Schulglocke langsam abgeklungen war, wurde Caroline bewusst, was es zu bedeuten hatte. Der Unterricht hatte begonnen und sie kam zu spät. An ihrem ersten Tag!

Sie seufzte und steuerte auf das Schulgebäude zu. Vor der Eingangstür blieb sie stehen, las das Schild mit der Aufschrift „Ziehen“ und drückte. Leise fluchend öffnete sie nun die Tür und ließ sie laut hinter sich zufallen. Die Pausenhalle war groß, geräumig und grau. Sie erinnerte Caroline ein wenig an eine zu groß geratene Gefängniszelle.

Unsicher blickte sie auf die Zahlen über den Türen, doch sie erinnerte sich nicht mehr an die Nummer ihres Klassenzimmers. Eigentlich sollte sie sich beeilen, doch andererseits war sie ja sowieso schon zu spät, also kramte Caroline in aller Ruhe einen kleinen Zettel hervor. Frau Schneider, Klasse 7b, Flur 3, Zimmer 8, stand in Schönschrift auf dem Papier. Schnell fand sie die Tür über der „Flur 3“ stand, öffnete sie einen Spalt breit und schob sich hindurch.

Auch der Flur wirkte wie die Pausenhalle trostlos. Zehn Türen gingen von ihm ab und führten in die Klassenzimmer. Vor Tür 8 blieb Caroline stehen. Erst jetzt bemerkte sie, wie nervös sie war: Ihr Herz klopfte schnell und laut, ihr war seltsam heiß und ein wenig schwindelig. Am liebsten wäre sie einfach abgehauen, weg von der Schule und weg von Zuhause. Doch sie hatte ja keine Wahl. Mit leicht zittrigen Händen richtete sie ihre Klamotten und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dann atmete sie noch einmal tief durch und betrat den Klassenraum.

Für einen Moment hatte Caroline das Gefühl, dass die Zeit still stand. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Niemand sagte ein Wort und sie stand einfach nur da und fühlte sich fehl am Platz. Die Blicke der Klasse prickelten auf ihrer Haut und von überall war leises Tuscheln zu hören. Schüchtern sah sie zu Boden und klammerte sich an ihre Umhängetasche.

Fast hätte Caroline nicht mitbekommen, wie Frau Schneider aufstand und sich neben sie stellte. Die Lehrerin räusperte sich laut und die Klasse verstummte. Dafür spürte Caroline wieder die brennenden Blicke der Schüler. „Also, das ist die neue Schülerin, die ich euch bereits angekündigt habe. Ihr Name ist Caroline und sie ist 13 Jahre alt“, sagte Frau Schneider zu der Klasse. Dann wandte sie sich an Caroline: „Such dir einfach einen freien Platz aus.“ Caroline nickte schnell. Dann blickte sie sich vorsichtig in der Klasse um. Etwa 30 Schüler saßen auf ihren Plätzen und wandten ihre Augen nicht von Caroline ab.

Unsicher machte sie einen Schritt, stolperte über ihre eigenen Füße und konnte nur gerade so das Gleichgewicht halten. Sofort war der ganze Raum mit lautem Lachen erfüllt. Caroline spürte, wie sie zu allem Überfluss auch noch knallrot wurde. Schüchtern zog sie die Schultern hoch und betrachtete ihre Füße. „Gleich ist es vorbei. Gleich hören sie damit auf“, hoffte Caroline.

Tatsächlich unterbrach Frau Schneider das Gelächter, indem sie ihre Bücher laut auf den Tisch knallte. Einige Schüler grinsten noch, vor allem ein Mädchen mit tiefroten Haaren sah sie mit abwertendem Blick an, doch das Lachen war verstummt. Caroline nutzte die Chance und steuerte eilig auf einen freien Einzelplatz am Ende des Klassenraumes zu. Dort setzte sie sich erleichtert hin, breitete ihre Schulsachen aus und richtete ihren Blick zur Tafel. Endlich fühlte sie sich unbeobachtet und das tat gut.

Caroline spürte die angenehme Frühlingssonne auf ihrer Haut. Es roch nach frischem Gras und der Wind zerzauste ihre kurzen, blonden Haare. Die Pause hatte begonnen und sie saß auf einer Wiese, die zum Schulgelände gehörte. Der Unterricht hatte sich unendlich lange gezogen. Immer wieder hatte das Mädchen mit den roten Haaren zu ihr geblickt und dann mit anderen Schülern getuschelt. Caroline seufzte. So hatte sie sich ihren ersten Tag auf der neuen Schule nicht vorgestellt. Eine Stimme hinter ihr riss sie plötzlich aus ihren Gedanken: „Na, du bist doch die Neue, oder?“

Ruckartig stand Caroline auf und drehte sich um. Da war sie. Das rothaarige Mädchen grinste sie an. Caroline lächelte vorsichtig zurück. Jetzt bloß nichts Dummes sagen. „Und wie gefällt´s dir in unserer Klasse? Ich bin übrigens Miranda, die Klassensprecherin und möchte natürlich, dass sich neue Schüler sofort wohlfühlen.“ Die Ironie in Mirandas Stimme war nicht zu überhören.

Genau jetzt wünschte sich Caroline einen perfekten Satz, um diese Worte zu kontern. Doch ihr fiel einfach keine passende Antwort ein. Sie zuckte nur kurz mit den Schultern. „Stumm bist du also auch noch. Tollpatschig und stumm. Du wirst bestimmt viel Spaß in unserer Klasse haben“, lachte Miranda und ging, ohne Caroline nochmal Beachtung zu schenken. Diese stand für einen Moment regungslos da, bis ihr bewusst wurde, dass sie alles nur noch schlimmer gemacht hatte.

Gebannt starrte Caroline auf die Uhr an der Wand. Die Zeiger bewegten sich langsam, viel zu langsam. Man sagt, die Zeit würde viel langsamer vergehen, wenn man auf die Uhr sieht. Caroline konnte diesem Satz nur zustimmen. Ungeduldig wandte sich das Mädchen wieder dem Unterricht zu. Frau Schneider erklärte gerade die Hausaufgaben.

Caroline konnte von ihrem hinteren Platz aus kaum verstehen, was die Lehrerin sagte, egal wie sehr sie versuchte, zuzuhören. Ihre Gedanken kreisten wild umher, ohne das sie etwas dagegen tun konnte: „Hatte Miranda den anderen Schülern von der Pause erzählt? War Caroline jetzt schon die Außenseiterin, mit der niemand was zu tun haben wollte?“

Frau Schneider schien endlich fertig mit ihrer Erklärung zu sein, denn die Schüler der 7b begannen, ihre Schulsachen einzupacken. Auch Caroline packte ihre Sachen in ihre Tasche und hängte sie sich um die Schulter. Vor der Tür drängten sich die Schüler. Sie konnten es anscheinend kaum erwarten, heraus zu kommen.

Caroline stellte sich in deutlichem Abstand zu den Schülern und wartete. Sie gehörte nicht dazu und die anderen ließen sie das deutlich spüren. Hin und wieder warfen sie ihr abweisende, herablassende Blicke zu oder grinsten sie breit an. Laut ertönte das erlösende Geräusch der Klingel. Die Schüler stürmten durch die Tür. Nur Caroline blieb zurück und sah ihnen nach. Erst als das Gedränge im Flur nachließ, lief sie aus dem Klassenzimmer.

Angenehm drang die Musik in die Ohren der Schülerin. Die Töne führten sie in einen anderen Ort, während sie die vorbeifliegende Landschaft durch das Fenster der Straßenbahn beobachtete. Die Geräusche ihrer Umgebung nahm sie nicht mehr war. Sie blendete nun alles komplett aus. Auf ihrem Schoss lag ein kleines Buch mit komplett weißen Seiten. Doch es war mehr als das.

Es war Carolines eigene Welt. Ihre Finger umfassten einen Bleistift, den sie mit sanften Bewegungen über das Papier führte. Alles war auf einmal weit weg und das Mädchen spürte eine angenehme Wärme um sich herum, wie eine Aura, die sie umgab. Kurz schloss sie die Augen und ließ das Gefühl auf sich wirken.

Es war so sanft und beruhigend, dass sie fast nicht bemerkt hätte, wie der Zug anhielt. Vollkommen aus den Gedanken gerissen warf sie ihre Sachen in die Tasche, stand ruckartig auf und hielt kurz inne. Vor ihren Augen tanzten kleine graue Punkte. Sie blinzelte ein paarmal, bis die Punkte verschwanden. Dann lief sie zur Tür der Straßenbahn und zog sie mühsam auf. Halb stolpernd und halb hüpfend kam Caroline auf dem Boden an.

Jetzt musste sie nur noch den Weg nach Hause finden, dabei war sie erst vor drei Tagen mit ihren Eltern und ihrer Tante umgezogen. Verloren blickte sie sich in der Frankfurter Stadt um. Irgendwie würde sie es schon schaffen.

Nachdem Caroline ein paar Mal falsch abgebogen war, erreichte sie nach einer Viertelstunde endlich ihre neue Wohnung. Diese befand sich im 2. Stock in einem schönen alten Gebäude. Mit dem Fahrstuhl fuhr Caroline nach oben und öffnete dann die Wohnungstür. Der Geruch von chinesischem Essen strömte ihr entgegen. „Hoffentlich hat Natalie nicht gekocht“, murmelte Caroline zu sich selbst.

Ihre Tante war eine grausame Köchin. Zum Glück war sie dazu übergegangen, Essen zu bestellen oder in der Mikrowelle warm zu machen, seit ihr einmal der Herd abgebrannt war. „Caroline?“, hörte das Mädchen ihre Tante aus der Küche rufen. Eilig zog die Schülerin ihre Schuhe aus, pfefferte ihre Tasche in eine Ecke und lief in die Küche. „Hi Natalie. Sorry, dass ich so spät bin. Hab mich ein bisschen verlaufen“, begrüßte Caroline ihre Tante. Natalie grinste ein wenig: „Das ist ja wieder Mal typisch. Aber du bist genau richtig zum Essen da. Ich habe beim Chinesen bestellt.“ „Das riecht man“, bemerkte Caroline kurz und setzte sich an den Tisch.

Die Beiden aßen eher schweigsam, wie fast immer. Sie verstanden sich eigentlich relativ gut, doch Natalie hasste Smalltalk und Caroline war sowieso nicht besonders gesprächig. Doch eine Frage brannte in ihr. Sie stellte sich diese Frage dauernd, aber die Antwort war fast immer dieselbe.

„Kommen Mum und Dad heute wieder?“, fragte Caroline in einem möglichst gleichgültigen Ton. „Nein, sie … dein Vater ist bei einem Prozess, wohl eine ziemlich große Sache. Und der Flug von deiner Mutter hat Verspätung“, antwortete Natalie mit leicht gesenktem Blick. Die Worte fühlten sich an wie ein Stich, obwohl Caroline geahnt hatte, dass ihre Eltern nicht kommen würden. Arbeit stand in ihrer Familie nunmal an oberster Stelle.

Um ihre Tante nicht zu beunruhigen, nickte das Mädchen und setzte ein unbekümmertes Lächeln auf. „Hast du auch Glückskekse geholt?“, fragte sie, um schnell das Thema zu wechseln. Natalie lächelte zurück und warf Caroline einen der Kekse zu. „Wie war´s eigentlich in der neuen Schule“, fragte Natalie und wirkte dabei wirklich interessiert.

Carolines Atem stockte kurz. Für einen Moment wollte sie ihrer Tante erzählen, wie furchtbar es war und wie gerne sie auf eine andere Schule gehen würde. Doch was wäre, wenn dort dasselbe passieren würde? Ihre Eltern hatten auch so schon genug Stress mit ihrer Arbeit, da konnte sie doch nicht auch noch mit ihren Problemen rumnerven. Nein, das konnte sie ihren Eltern nicht antun.

Caroline überwandt sich schließlich zu einer Antwort: „War ganz okay. Aber die Stadt ist wirklich schön.“ Natalie lächelte und schien zufrieden zu sein. Dann stand sie auf und ging Richtung Arbeitszimmer. „Ich hab jetzt zu tun. Mein Buch schreibt sich schließlich nicht von alleine“, sagte sie, während sie in dem Raum verschwand.

Seufzend lehnte sich Caroline zurück und betrachtete den Glückskeks in ihrer Hand. Dieser kleine Keks sollte ihr Glück bringen. Aber es war doch immer das Gleiche: In jedem Glückskeks war eine nichtssagende Botschaft. Sie konnte alles bedeuten und auf jeden zutreffen. Manchmal fragte Caroline sich, warum sie auch noch darauf reinfiel und immer wieder Glückskekse kaufte. Vielleicht war es einfach ein kleiner Hoffnungsschimmer, doch einen Hauch Glück abzubekommen.

Caroline musste ein wenig über sich selbst lächeln. Versank sie gerade schon wieder in Selbstmitleid? Vorsichtig öffnete sie nun den Keks und zog dabei die Botschaft heraus. Es war ein kleiner weißer Zettel, wie immer, doch irgendetwas daran war ungewöhnlich. Die Schrift war nicht wie üblich mit dem Computer gemacht. Es war eine Handschrift, die noch dazu stark verschnörkelt war. Konzentriert las Caroline die Schrift laut vor: „Dein Leben ändert sich, Caroline.“

Langsam schüttelte Caroline den Kopf. „Nein“, flüsterte sie zu sich, „nein, das kann nicht sein.“ Sie zerrupfte den Zettel mit ihren Fingern. Warum stand ihr Name in einem Glückskeks? War das ein schlechter Scherz? Ihr Kopf begann zu brummen und sie spürte, wie ihr Atem auf einmal schwerer wurde. Der Satz flimmerte vor ihren Augen und brannte sich in ihr Gehirn.

Mit wackeligen Beinen richtete sich Caroline auf, lief in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, um sich dagegen zu lehnen. Unbewusst hatte sie das kleine Buch mit den weißen Seiten mitgenommen, genauso wie ihre Kopfhörer. Vollkommen verunsichert und zittrig ließ sie sich auf ihr Bett fallen.

Sie zeichnete sofort an dem Bild weiter, was sie im Zug angefangen hatte. Langsam wurde ihr Atem ruhiger und sie schaffte es, ihre Gedanken nach und nach zu ordnen. „Wahrscheinlich war es eine Verwechslung oder Natalie hatte sich einen Streich erlaubt.“, dachte sie sich und versuchte dabei, sich selbst davon zu überzeugen.

Erst nach einiger Zeit ließ Caroline von der Zeichnung ab und blickte verträumt aus dem Fenster. Die Sonne schien, kein Wunder, immerhin waren es nur noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien. Das würde sie schon noch überstehen. Egal wie furchtbar es in ihrer neuen Klasse war. Caroline wandte sich wieder dem Buch zu und war fast schon überrascht, dass auf der zuvor weißen Seite ein Hund abgebildet war. Sein Fell war golden und in seinen tiefbraunen Augen lag ein Hauch von Angst.

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